Chronik Schweizerhaus
Maloja
„An manchen Morgen, während ich minutenlang die Berge betrachte, bevor ich zum Pinsel greife, fühle ich mich gedrängt, mich vor ihnen niederzuwerfen als vor lauter unter dem Himmel aufgerichteten Altären“- so begeistert, ja ehrfurchtsvoll, beschreibt Giovanni Segantini seine Gefühle beim Anblick der Landschaft, die sich ihm vor seinem Hause aus darbot. Dieselbe Aussicht geniesst der Gast auch von dem gerade gegenüberliegenden Hotel Schweizerhaus, und wohl mancher unserer treuen Gäste hat Ähnliches empfunden, wenn er am Fenster seines Zimmers stand. Das weite offene Tal mit dem Juwel des Silsersees, der imposanten Bergkulisse und den Arven- und Lärchenwäldern übt seinen Zauber zu allen Tages- und zu allen Jahreszeiten auf den Menschen aus, dem die Natur etwas bedeutet. Das ganz besondere an Maloja jedoch ist das Licht, das hier, wo der Norden sich mit dem Süden vereint, von einem fast mystischen Leuchten sein kann. Das ist es wohl auch, was viele Besucher immer wieder hierherzieht.
Ein Hotel mit Geschichte
Das Schweizerhaus hat tatsächlich eine Geschichte, die weiter zurückreicht, als dies üblicherweise bei Hotels der Fall ist. Entstanden ist es aus der ehemaligen „Osteria vecchia“, die als Hospiz vor etwa 600 Jahren erbaut wurde. Die „Osteria“ war eine Herberge, wie sie einst ganz selbstverständlich zu einem Pass gehörte, mussten doch nach einem beschwerlichen Aufstieg vom Bergell Mann und Pferd oder Saumtiere eine Rast einlegen, sich mit Speis` und Trank erlaben, ehe die lange Reise durch das Engadin ostwärts oder nach wenigen Kilometern erneut über einen Pass, den Julier, nach Norden fortgesetzt wurde. Ein Halt wurde üblicherweise auch eingeschaltet, ehe man den steil abfallenden Weg ins Bergell unter die Füsse nahm.
Der Malojapass war Teil des römischen Strassennetzes
Der Malojapass, mit einer Scheitelhöhe auf 1817m ü. M. ist der niedrigste der Schweizer Pässe. Die Tatsache, dass er aus dem flachen Hochtal des Engadins, ohne Gegensteigung, unmittelbar um fast vierhundert Meter ins erste Dorf des Bergells , Casaccia, abfällt, bildet eine topographische Besonderheit, wie sie wohl kein anderer Pass aufweist. So ist es denn auch nicht verwunderlich, dass dieser Übergang schon in uralter Zeit begangen wurde. Zeugnis davon geben bei Maloja gefundene Schalen- oder Runensteine aus vorchristlicher Zeit. Die Bedeutung des Passes aber unterstreicht eines der interessantesten historischen Dokumente aus der Römerzeit, nämlich das „Itinerarium Antonini“ um 300 n. Chr., das mit allen wichtigen Strassen des Imperiums auch den Malojapass aufführt, und zwar als Teil der rätischen Alpenstrasse zwischen Bregenz und Mailand mit den Stationen Curia (Chur), Tinnetione (Tinzen), Muro (der befestigte Engpass Castelmur bei Promontogno), Summolacu (Sommolaco), Como. Ebenfalls aufgezählt wird der damals stark begangene Septimerpass, der das Oberhalbstein auf der Alpennordseite direkt mit Casaccia verbindet, und der in nächster Nähe von Maloja die Alpenkette überquert.
Die Pass-Strasse in neuerer Zeit
Als West-Ost-Verbindung freilich war der Maloja dann in späteren Jahrhunderten eine rege benützte Durchgangsroute, umso mehr als vom Engadin gesagt wurde, es verfüge über die besten Landstrassen und Brücken in Graubünden, sodass, wie in einem alten Dokument zu lesen, „zwei Wagen ungehindert nebeneinander durchpassieren können, und die Brücken sind alle von lärchenem Holz gezimmert, mit aufgerichteten Nebenhölzern, dass im Umfallen der Wagen nicht ins Wasser fallen könnte“. Aber die Strasse durch das Oberengadin sollte noch besser werden, denn zwischen 1774 und 1776 wurde sie zwischen Maloja und Punt Ota mit Kosten von 35000 Gulden weiter ausgebaut. Nach damals modernsten Kriterien ist die Pass-Strasse erneut zwischen 1827 und 1865 in mehreren Etappen ausgebaut worden, wobei die Kosten für die Strecke Silvaplana-Castasegna 390 000 Franken betrugen.
Aus dieser, für die damalige Zeit sehr grossen Summe geht klar hervor, welche Bedeutung den Strassen und vor allem den Pässen zukam. Das beschränkte sich nicht nur auf ihre Benützung durch Händler, Reisende und Pilger. Im Vordergrund standen da seit jeher auch strategische Überlegungen.
Maloja in den napoleonischen Kriegen
Auf tragische Weise bekam Maloja seine strategische Bedeutung besonders während den napoleonischen Kriegen, als sich im Engadin und Bergell französische und österreichische Truppen immer wieder die Herrschaft über den Pass streitig machten. So berichtet der Silser Chronist Paul Robbi am 5. Dezember 1798, dass vom österreichischen General Auffenberg der Befehl gekommen sei, die Strassen bis auf den Grund zu räumen, damit man mit Kanonen und Munition durchfahren könne. „Dank unserer angestrengten Arbeit konnte am 6. die erste Kanone das Engadin betreten. Mit grosser Mühe wurde sie nach Maloja raufgeschafft; dort musste man sie demontieren und samt Wagen und Munition auf Schlitten laden. „Im folgenden Jahr musste die „Bergeller Mannschaft“ schon am 3. April den Malojapass räumen, was mit grossen Schwierigkeiten verbunden war, da es fortwährend schneite und stürmte, und der ausgeschaufelte Weg gleich wieder voll Schnee gewesen sei. Darum aber kümmerte sich die fremde Soldateska nicht, Tag und Nacht seien die Einheimischen mit den Zugtieren in Tätigkeit gewesen, schreibt Robbi. Am 19. Mai seien alsdann zwei Bataillone mit 150 Pferden nach Sils gelangt, und da es immer noch Schnee hatte, mussten die Männer wieder nach Maloja, um die Strasse auszuschaufeln. Die Soldaten wurden auf die zwei Orte verteilt, und sie hätten den Talleuten alles genommen, was sie fanden. Es wurde aber noch schlimmer, denn im August raubten sie das Vieh aus den Ställen, stahlen alles, was nicht niet- und nagelfest war und in Maloja, so schildert Robbi die Situation, hätten sie fast alle Dächer zerstört.
1799 nahm der Krieg eine Wendung, und nun kamen die Befehle von Seiten der Franzosen, aber schon im September war es wieder eine andere Grossmacht, die das Sagen hatte, und es erging die Order, „wer gesunde Glieder habe“ müsse ins Bergell, um bei dem Transport der russischen Artillerie von General Suworow zu helfen, die in zwei Tagen von Chiavenna aus Celerina erreichen sollte. Es dauerte dann allerdings bis zum 7. Oktober bis die 62 Kanonen und die grosse Zahl von Munitionswagen durchgefahren waren.
Von diesen schlimmen Ereignissen war auch die „Osteria vecchia“ betroffen, denn am 25. November musste Maloja hundert französische Soldaten aufnehmen. Fünfzig von ihnen wurden in der alten Herberge untergebracht. Dort sollen die Soldaten derart in der Küche gefeuert haben, dass das Haus Feuer fing und zur Hälfte niederbrannte.
Hungersnot im Engadin
Diese Zwangsarbeitsleistungen und Einquartierungen, Requisitionen, Zerstörungen und dazu immer wieder die grossen Geldleistungen, die den Gemeinden zur Bezahlung der Kriegsspesen auferlegt wurden, führten zu einer vollständigen Verarmung der Bevölkerung, die sich noch Jahre nach Beendigung der kriegerischen Auseinandersetzungen auswirkten. Zu allem Unglück kamen nach der Jahrhundertwende noch lange und kalte Winter, kurze und rauhe Sommer hinzu mit sehr schlechten Ernten im ganzen Alpengebiet. Die Folge war eine böse Hungersnot. Die Einfuhr von Getreide aus den grenznahen Gebieten Italiens, mit der sonst die Gemeinden in Hungerjahren das Schlimmste abzuwenden vermochten, spielte im legendären Notjahr 1816 nicht, da Chiavenna und das Veltlin ein Ausfuhrverbot dekretiert hatten. Dennoch gelangte etwas geschmuggelter „Mailänder Roggen“ über den Murettopass nach Maloja, freilich zu teurem Preis, aber wer es sich leisten konnte, fuhr nach Maloja, wo das Getreide zum Kauf angeboten wurde. Auch nachdem das Ausfuhrverbot für Korn aufgehoben worden war, blieb Maloja noch lange der Umschlagplatz für diese wichtigen Lebensmittel.
Ein Revolutionär in der „Osteria vecchia“
Die „Osteria vecchia“ war in jenen Jahren im Besitz von Giovanni Josty, einem im Ausland als „Chocolatier“ und Bierbrauer zu Reichtum gelangten Engadiner. Sie ging dann durch verschiedene Hände und sollte 1854 noch einmal in den Strudel der europäischen Geschichte gezogen werden. In den ersten Januartagen des Jahres 1856 soll der italienische Rebell Felice Orsini (1819-1858) in der Osteria übernachtet haben. Zeit seines Lebens hatte er sich gegen die Träger der Macht in seinem Land aufgelehnt, verbrachte deshalb Jahre im Kerker, wurde 1854 zum Tode verurteilt, konnte aber aus der Haft nach England entfliehen. Von dort aus bereitete er ein Attentat auf Napoleon III. vor, das er am 13. Januar 1858, kurz nach seinem Aufenthalt in Maloja, verübte. Der Anschlag schlug fehl. Orsini wurde zum Tode verurteilt und in Paris hingerichtet. An ihn erinnert das Orsini-Stübli im Schweizerhaus.
Maloja als zweites Monte Carlo
Um 1880 wurde die „Osteria vecchia“ vom Grafen Camille Frédéric Maximilian de Renesse erworben. Dieser belgische Adlige wollte aus Maloja ein zweites Monte Carlo machen mit einem Grosshotel erster Klasse, in dem sich die Aristokraten Europas zur Erholung, zu Sport und Unterhaltung zusammenfinden sollten. In einer zweiten Etappe sollten ein weiteres Hotel und 25 Villen entstehen. Eine Quelle wurde entdeckt und analysiert und als Heilquelle publik gemacht. Die Einrichtung von Kuranlagen wurde geplant. Eine Tramlinie sollte Maloja mit St. Moritz verbinden. Vor allem aber sollte das Hotel mit einem Kursaal verbunden sein, dessen Spielsäle Monte Carlo in den Schatten stellten. Renesse bestimmte die „Osteria vecchia“ zu seinem Wohnsitz und baute sie im originellen Chaletstil um, der heute noch allgemeine Bewunderung findet.
Nach einigen Jahren lies er sich das Schloss Belvedere als Privatwohnsitz bauen und verpachtete das Schweizerhaus an Rudolf Wettstein vom Hotel Albana in St. Moritz.
Von all den hochfliegenden Plänen wurde nur das grosse Hotel, das Maloja Palace, gebaut, das 1884 eröffnet wurde. Die Bewilligung für den Spielbetrieb wurde von den eidgenössischen Behörden verweigert. Dennoch entfaltete sich zunächst im Hotel ein Leben im grossen Stil mit der Haute volée aus ganz Europa. Die Unterhaltungsprogramme wurden von den berühmtesten Künstlern der Zeit bestritten, wie Stars der Metropolitan Opera New York, Aufführungen der Comédie Francaise und des Theater Sarah Bernhardt, Paris. Bühnenshows mit bis zu 250 Mitwirkenden wurden veranstaltet.
Das Dekor und der Pomp bei Ballanlässen waren Legende und wurden von den Zeitungen der Metropolen in den höchsten, in den Lokalblättern freilich zuweilen auch in kritischen Tönen kommentiert. Selbstverständlich standen den Gästen auch alle möglichen Sportarten zur Verfügung, wie eine Golfanlage, Tennis, Rudern, Eisplatz, Skiunterricht, ein eigener Skiclub und anderes mehr.
Der Glanz sollte allerdings nur kurze Zeit dauern. Finanzielle Probleme ergaben sich schon recht kurze Zeit nach dem Bau, da wichtige ausländische Geldgeber in Schwierigkeiten gerieten. Schon nach der Jahrhundertwende konnte das Hotel für die Wintersaison nicht mehr geöffnet werden und nach Ausbruch des Weltkriegs 1914 blieb es ganz geschlossen. In den nachfolgenden Jahrzehnten erlebte es ein recht turbulentes Schicksal, bis es 1962 von der belgischen Gesellschaft „Alliance de mutualité chrétienne“ als Ferienhotel für Jugendliche, Familien, Behindertengruppen übernommen wurde. Das Schicksal des Grafen Renesse und seiner Projekte entbehrt nicht einer gewissen Tragik - aber vielleicht ist es für Maloja gut, dass sich diese gigantischen Vorhaben nicht realisieren liessen. Ob unsere treuen Gäste wohl ins Schweizerhaus kommen würden, wenn aus Maloja das zweite Monte Carlo geworden wäre?
Das Schweizerhaus, Pöstli und Capricorn
Auch das Schweizerhaus erlebte ein wechselvolles Schicksal. Nach dem Zusammenbruch des Imperiums des Grafen Renesse war es mit allen anderen Liegenschaften in den Besitz der Compagnie Franco Suisse Maloja übergegangen. Nachdem das Pachtverhältnis mit Wettstein offenbar ausgelaufen war, wurde es 1915 an Frau Elisabeth Meyer, geschiedene Berns, verpachtet, und zwar zu einem jährlichen Zins von 4000 Franken, wobei jedoch im Vertrag ausdrücklich vermerkt wird, dass sich der Pachtzins um jährlich 1000 Franken erhöhe, „wenn die bereits geplante Eisenbahn nach Maloja fahre“. Ebenfalls wird im Vertrag festgehalten, dass er abgeschlossen sei „unter der ausdrücklichen Bedingung, dass die eingeleitete gerichtliche Scheidung durchgeführt und Herrn Berns während der ganzen Dauer des Vertrages jeder Zutritt ins Hause verweigert wird“. 1923 erwarb die Familie Conrad,
St. Moritz das Schweizerhaus und 1968 ging es dann an die Schweizerhaus AG über. In diversen Etappen ist das Haus inzwischen einer umfassenden Renovation und Modernisierung unterzogen worden. Drei Jahre später wurde das auf der anderen Strassenseite liegende Hotel Poestli gekauft, an dessen Stelle ein modernes Hotel mit Appartements, Zimmern, Sauna, Restaurant, Kiosk und Bankfiliale gebaut wurde. 1991 kam noch die Chesa Capricorn unmittelbar neben dem Schweizerhaus dazu, sodass die Gäste heute die Wahl haben zwischen verschiedenen Typen von Zimmern und Aufenthaltsräumen, die alle von der gleichen Leitung unter dem gleichen Motto geführt werden, nämlich jedem Gast einen rundum erfreulichen Aufenthalt zu bieten, mit modernem Komfort, mit dem Besten aus Küche und Keller und der persönlichen Atmosphäre ihrer Gastgeber.
Marcella Maier